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Wie steht es um nordamerikanisches Counter-Strike?

Seit Beginn der Pandemie haben wir nur wenige Einblicke in den regionalen Vergleich zwischen Europa und Nordamerika bekommen. Während... Fabio | November 8, 2020

Seit Beginn der Pandemie haben wir nur wenige Einblicke in den regionalen Vergleich zwischen Europa und Nordamerika bekommen. Während der BLAST Premier waren erstmals Top-Teams aus NA auf europäischem Boden und bekamen die Chance, sich gegen ihre Gegner aus Übersee zu beweisen – mit äußerst wenig Erfolg. Wie steht es also um nordamerikanisches Counter-Strike?

Niemand würde bestreiten, dass die letzten paar Monate auch für den Esport schwierig zu verdauen waren. Abgesehen von den Finalspielen der League of Legends World Championships hat es seit über einem halben Jahr keine LAN-Turniere mehr gegeben. Der Stress, konsequent in Online-Ligen zu spielen, zehrt sichtlich an den Spielern und kein Ende ist in Sicht.

Nun waren Evil Geniuses und FURIA als Vertreter ihrer Region bei der BLAST Premier: Fall Series vor Ort – zumindest online. Wir kennen den Ausgang. Zwei schnelle Best-of-Threes schickten diese beiden Teams jeweils auf dem letzten Platz ihrer Gruppe raus. Sogar MIBR, deren Roster erst Tage zuvor aus verschiedensten Ersatzspielern zusammengewürfelt wurde, konnten sich besser schlagen.

Obendrauf gibt es Druck von außen. Ein neuer Esports-Titel, VALORANT, mischt die Shooter-Szene auf und verleitet einige Spieler dazu, ihre Esports-Heimat zu verlassen und sich in RIOTs neuem Spiel zu versuchen. Titel wie Fortnite, PUBG, oder Overwatch verbuchen einige Abgänger, doch kaum eine Szene ist davon so stark betroffen wie das nordamerikanische Counter-Strike.

STEEL, FNS, VICE, WARDELL…

Zahllose Spieler haben CS:GO den Rücken gekehrt und erhoffen sich in VALORANT eine zweite Chance auf Ruhm und Trophäen. Daniel “vice” Kim, der zuvor mit Spencer “Hiko” Martin bei Rogue aufgetreten war, ist nun im neuen Line-Up von Cloud9 zu finden. Joshua “steel” Nissan und Hiko befinden sich bei den 100 Thieves, Matthew “Wardell” Yu ist bei TSM unter Vertrag und spielt mit alten CS:GO-Kollegen wie Yassine “Subroza” Taoufik und James “hazed” Cobb.

Ein großer Teil der nordamerikanischen Tier 2 und 3 Szene ist abgewandert, womit ein durchaus breites Vakuum inmitten des Wettkampfs entstanden ist. Zwischen den Top-Organisationen und den Amateuren befinden sich nur noch wenige semi-professionelle Teams, die Spieler auf dem Weg zur Spitze unterstützen können. Doch VALORANT zieht sogar große Namen von Counter-Strike weg.

NITR0 ZU VALORANT

Unter den Abgängern sind auch einige hochprofilierte Spieler, wie beispielsweise Nick “nitr0” Canella, der bislang der In-Game-Leader des international erfolgreichen Team Liquid war. Unter dieser Organisation gewann er Events wie IEM Sydney und die ESL One Cologne, was bislang nur wenigen legendären Teams vorbehalten war. Trotzdem ist er abgesprungen.

Von außen mag das vielleicht wie eine schlechte Entscheidung ausehen, aber aus seiner Sicht ergibt es durchaus Sinn: Er hat mit Liquid alles erreicht, was er für möglich hält. Die Form des Teams – zur Zeit seines Ausstiegs und heute – lässt nicht vermuten, dass Liquid bald wieder um internationale Trophäen spielen werden. Wenn ihm also keine Möglichkeit zum Aufstieg bleibt, kann er allenfalls in ein kleineres Team einsteigen und versuchen, dieses zum Erfolg zu führen. Doch was wären seine Optionen?

Evil Geniuses sind bereits mit einem fähigen Shotcaller ausgestattet. Peter “stanislaw” Jarguz performt besser und führte sein Team bis zuletzt auch regelmäßig zu Turniersiegen. Danach trocknet das Spielfeld der USA aus. Ohne die 100 Thieves in Counter-Strike wären lediglich Chaos vielversprechende Kandidaten. Doch dort könnte nitr0 niemals mit vergleichbarem Gehalt rechnen und müsste viel Aufbauarbeit erledigen, bevor er sich wieder in den internationalen Wettkampf stürzen kann.

Das Dilemma von nitr0 steht wie ein Sinnbild für die Schwierigkeiten des nordamerikanischen Counter-Strike. Es gibt nur wenige erfolgreiche und lukrative Teams. Sobald man die Top 5 verlässt, trifft man öfter auf semi-professionelle Organisationen oder Teams, die gänzlich ohne finanzielle Unterstützung arbeiten.

WARUM SPRINGEN SO VIELE SPIELER AB?

Und genau das trifft das Herz des Problems: Geld. VALORANT ist neu, aufregend, und mit RIOT ist ein Spieleentwickler an Bord, der weiß, wie man Esport macht. Organisationen sind sehr daran interessiert, sich früh in diesem Spiel zu etablieren und eine Vormachtstellung zu erarbeiten.

Viele dieser Spieler, die in CS:GO um jeden Penny kämpfen mussten, sind nun vollzeitangestellte Profis. Sie haben ein stetiges Einkommen und regelmäßige Turniere, an denen sie teilnehmen können. In einem so jungen Spiel haben sich bereits einige Top-Talente hervorgetan, wie beispielsweise Wardell und Tyson “TenZ” Ngo.

Selbstverständlich gibt es keine Garantie dafür, dass VALORANT auf lange Sicht ein relevantes Spiel bleibt. Das Interesse der Spielerbasis ist bereits abgesunken und der Hype zur Beta war bedeutend größer als der zum eigentlichen Release. Die Zuschauerzahlen halten sich konstant, sind aber nicht sonderlich hoch. Der Erfolg des Spiels wird also vermutlich durch die Resilienz von RIOT entschieden. Wie lange werden sie Geld und Ressourcen in dieses Spiel pumpen, um es zu einem großen Esport zu entwickeln?

Doch für die Spieler ist das erst einmal nicht wichtig. Sie kämpfen in einem weitestgehend polierten und stabilen Shooter. Ihr Lebensunterhalt ist gesichert und sie haben eine Chance auf weltweiten Ruhm, der ihnen in Counter-Strike verwehrt war.

WARUM IST EUROPA NICHT BETROFFEN?

All diese Aspekte treffen nur bedingt auf den europäischen Wettbewerb zu. Die Szene ist breiter aufgestellt und bietet ein Standbein für dutzende Organisationen. Sogar Teams wie ALTERNATE aTTaX, die sich meistens nur auf nationaler Ebene bewegen, besuchen genug Turniere und haben ausreichend Sponsoren, um sich über Wasser zu halten. Der Pool an Organisationen ist gigantisch und bietet auch Spielern außerhalb der regionalen Top 20 eine Lebensgrundlage.

Aus diesem Grund lassen sich nur wenige Spieler finden, die tatsächlich den Sprung zu VALORANT machen wollen. Spieler wie Adil “ScreaM” Benrlitom haben ihr Verfallsdatum überschritten und würden vermutlich niemals wieder in einem relevanten Counter-Strike-Team auftreten können. VALORANT bietet ihnen eine zweite (oder sogar dritte) Chance.

STIRBT NA CS WIRKLICH?

Ähnlich wie in Europa trifft es nicht die ganz Großen. Selbstverständlich ist der Talent-Pool der Amerikaner bedeutend kleiner, doch Team Liquid und Evil Geniuses werden noch lange fortbestehen. Was die Frage des Jungtalents anbetrifft, so muss man lediglich einen Blick auf Chaos werfen. Der Roster berstet geradezu mit hochkommendem Talent. Niemand personifiziert das besser als Nathan “leaf” Orf. Seine Performance hat bereits mehrfach zu unfundierten Cheating-Vorwürfen geführt und mit 16 Jahren ist er gerade erst am Anfang seiner Karriere.

Michael “Grim” Wince, der neue fünfte von Team Liquid, ist ebenfalls ein perfektes Beispiel für frisches Talent, das langsam den Aufstieg in die höheren Ligen geschafft hat. Das Volumen an neuen Spielern mag nicht so groß sein wie das der Europäer, aber es kommen immer noch Neuzugänge. Zusätzlich dazu ist es nur in seltenen Fällen das Top-Talent, das aus der Szene flüchtet. All diese Spieler, die nun in VALORANT dominieren, hatten in CS:GO keine große Zukunft vor sich – nicht nur, weil sie in ihrem Land ungenügende Möglichkeiten hatten, sondern weil sie nicht das Können haben, um bei den ganz Großen mitzuspielen.

DIE TOP-TALENTE BLEIBEN

Bevor er zu einem der besten nordamerikanischen VALORANT-Spieler wurde, war TenZ nicht in der Lage, mit der CS:GO-Abteilung von Cloud9 mitzuhalten, die im internationalen Vergleich selber nicht zurecht kam. Wardell war ein Teil von Ghost Gaming und Rogue, wo er kein hervorstechender Spieler war. Das gleiche gilt für Pujan “FNS” Mehta, der schon lange nicht mehr den Anspruch auf das Kommando in einem Top-Team hatte. Auch wenn er mit Chaos auf dem Weg zum Erfolg war, wird steel vermutlich nie wieder an einem CS:GO-Major teilnehmen dürfen. Er müsste sich für immer damit begnügen, kurz vor dem großen Durchbruch zu stagnieren – falls sein Team ihn nicht sowieso durch einen Shotcaller ersetzt hätte, der nicht von Valve gebannt ist.

Russel “Twistzz” VanDulken, Ethan “Ethan” Arnold, Jonathan “ELiGE” Jablonowski, Tarik “tarik” Celik… die Counter-Strike-Szene berstet weiterhin mit talentierten nordamerikanischen Spielern. Es stimmt, dass Liquid und EG momentan nicht das Level halten können, das man von ihnen gewöhnt ist. Doch sie sind im Begriff, sich zu erholen. Ein paar Online-Matches auf europäischem Boden signalisieren nicht das Ende einer Szene, die sich seit 2016 konsequent hochgearbeitet hat.

Die Fans, die lautstark verlauten lassen, dass nordamerikanisches Counter-Strike stirbt, tun das bereits seit Jahren. Wirft man einen Blick auf 2019, so findet man Team Liquid und Evil Geniuses unter den Top-Teams des Jahres. Die Szene ist nicht tot und die Abgänge zu VALORANT werden kompensiert werden, auch wenn es vielleicht einige Zeit dauert.