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Hatten Cloud9 überhaupt eine Chance?

Das Cloud9- Lineup war gerade einmal ein halbes Jahr zusammen und ist nun mitsamt Coach auf den Transfermarkt geschoben... Fabio | März 27, 2021

Das Cloud9- Lineup war gerade einmal ein halbes Jahr zusammen und ist nun mitsamt Coach auf den Transfermarkt geschoben worden. Wie konnte es dazu kommen und war der Niedergang des ‘Colossus’ schon zu Beginn absehbar?

Im September 2020 kündigte der CS:GO-Caster Henry “HenryG” Greer an, sich aus dem Moderations-Geschäft zurück ziehen zu wollen. Anschließend wurde er als der neue General Manager der Cloud9 CS:GO-Division vorgestellt. Über die nächsten Wochen wurden Aleksandar “kassad” Trifunović als Coach und Ricky “floppy” Kemery als Überlebender des alten Lineups angekündigt. Danach stieß Alex “ALEX” McMeekin für Millionengelder zum Team dazu. William “mezii” Merriman und Özgür “woxic” Eker folgten, und das Lineup wurde mit Patrick “es3tag” Hansen komplettiert.

Der ‘Colossus’ sollte – ähnlich wie Complexity’s ‘Juggernaut’ – die Spitze des internationalen Counter-Strike erklimmen. Complexity waren damals zumindest einige Erfolge gelungen. Bei ihrem Offline-Debüt schlugen sie Astralis in einem Best-of-Three – und das auch noch vor Zuschauern!

mezii, es3tag und woxic (Bild via Cloud9)

DIE ERSTEN WOCHEN DES ‘COLOSSUS’

Für Cloud9 ging es bei der Flashpoint Season 2 los. Dort mussten sie in einer Vierergruppe gegen OG, Gen.G und Virtus.pro antreten, was sicherlich kein leichtes Unterfangen war. Tatsächlich konnten ALEX und Co. sogar knappe Maps spielen, ein 14-16 gegen VP und ein 18-22 gegen OG. Danach waren sie aber schon ausgeschieden und konnten sich noch nicht einmal über die Last Chance Stage weiterqualifizieren.

Damals waren Virtus.pro auf dem Weg, die Übermacht zu werden, die sie jetzt sind und OG waren Favoriten für das Event. Dementsprechend war die direkte Niederlage keine große Enttäuschung, doch trotzdem war das Debüt des ‘Colossus’ fehlgeschlagen. Bei dem BLAST Premier Showdown konnten sie endlich Siege verbuchen, verloren aber knapp vor der Qualifikation zu den Fall Finals gegen mousesports. Bei den DreamHack Masters Winter Europe flogen sie zum zweiten Mal gegen mouz raus. Erneut scheiterte das Team, doch auch diese Niederlage konnte verschmerzt werden.

EIN LANGSAMER NIEDERGANG

Nach diesem Turnier standen jedoch keine großen Events mehr bevor. Um sich in der Übergangszeit zum neuen Jahr wenigstens etwas beschäftigt zu halten, zog das Team in den Nine To Five #7 Cup. Dort wurden sie direkt ins Viertelfinale gesteckt, doch nach einem knappen Sieg gegen PACT flogen sie mit einem 0-2 gegen forZe raus.

Dort zeichnete sich erstmals ab, dass das Team langfristige Probleme haben würde. Kaum jemand war überrascht, dass sie den Sprung in die Top 10 nicht unmittelbar geschafft hatten. Doch Niederlagen gegen forZe und Co. gehörten definitiv nicht ins Programm und waren den Zielen, die sie sich selber gesetzt hatten, unwürdig.

Für das Team kam es jedoch noch schlimmer. Kurz vor Neujahr kündigte kassad seinen Abgang vom Roster ab. Damit wurde die Coaching-Position offen und der Veteran, der das Team hätte zusammenführen und anleiten sollen, war plötzlich weg. Als woxic dann auch noch zwei Wochen später das Lineup verließ, wurden die Kritikerstimmen besonders laut. Erick “Xeppaa” Bach galt zwar als einer der vielversprechendsten Jungspieler Nordamerikas, aber auch er kam an das Level von woxic nicht heran und konnte seine Rolle auch nicht ausfüllen.

Das AWPen ging damit an ALEX, der die Aufgabe jedoch schnell an es3tag weitergab. Das Team flog bald in den Play-Ins der IEM Katowice raus und konnte sich danach in der DreamHack Masters Spring Qualifikation sogar nicht einmal gegen VOYVODA, ein bulgarisches Mix-Team, durchsetzen. Bei Snow Sweet Snow #2 kamen sie nicht über das Viertelfinale hinweg, in das sie durch das Seeding bereits automatisch platziert worden waren. Möglicherweise war das der größte Tiefpunkt für das junge Team. Als Cloud9 dann auch noch darin versagten, die Playoffs-Qualifikation in der ESL Pro League zu erreichen, zog das Management offiziell den Stecker.

WAR ALEX DER RICHTIGE IGL?

ALEX hat in Cloud9 nicht funktioniert – und das genau aus den Gründen, wegen derer er mit Vitality so erfolgreich war. Der junge Brite ist selber ein Neuling und konnte beim französischen Team von einer Reihe an Veteranen profitieren, die ihm Stabilität und Unterstützung boten. Niemand muss einem Cédric “RpK” Guipouy erklären, wie er Counter-Strike zu spielen hat.

Bei Cloud9 begegneten ihm jedoch gleich vier Spieler, die die Anleitung eines Veteranen gebraucht hätten. Denn es3tag konnte bei Astralis so glänzen, weil er Lukas “gla1ve” Rossander im Rücken hatte. In der Sekunde, in der er Cloud9 beitrat, stürzte seine Performance ab. Das überragende Level, das er bei Astralis gezeigt hatte, kam bei dem ‘Colossus’ niemals zum Vorschein.

es3tag schoss bei Astralis im August 2020 in die Höhe, nach dem Wechsel stürzte er jedoch ab.

Das macht ALEX nicht im Geringsten zu einem schlechten In-Game-Leader, nur zu einem ungeeigneten Puzzle-Teil für dieses Lineup. Unter Vitality hatte er seinen Wert eindeutig bewiesen, doch die Bedingungen waren vollkommen anders und er konnte dort auf erprobtes Talent zurückgreifen. Selbst wenn das Potenzial von es3tag, woxic, mezii und Co. unendlich gewesen wäre, so hätte er es vermutlich nie aus ihnen herausbekommen.

WOLLTEN CLOUD9 DEN ERFOLG ZU SCHNELL HABEN?

Was haben Natus Vincere, Astralis, Gambit, Virtus.pro und Liquid gemeinsam? Zum einen bilden sie die momentane Top 5 der Weltrangliste, zum anderen arbeiten die Kernspieler dieser Teams aber auch schon seit langer Zeit zusammen. Virtus.pro haben in ihrer Konstellation seit über einem Jahr gemeinsam gespielt. Das Investment der Organisation und das Vertrauen in die Spieler hat sich erst vor wenigen Monaten ausgezahlt. Das gleiche gilt für Gambit, die ihre Youngster bereits seit dem Sommer 2019 hochgezogen hatten.

Viele der Spieler wurden bis vor kurzem noch nicht als internationales Top-Talent aufgefasst. Niemand erwartete von ihnen, gegen die ganz großen Teams anzukommen und nur durch harte Arbeit und viel Zeit zum Wachstum haben sie sich endlich zur Spitze durchgedrückt. Cloud9 sind dafür einen ganz anderen Weg gegangen. Denn sie waren nicht bereit, abzuwarten. Sie wollten ein Top-Lineup, das es mit den Großen aufnimmt – und sie wollten es sofort!

Damit haben sie ihrem Lineup die Möglichkeit genommen, zu wachsen. Die Vermarktung als ‘Colossus’ hat die Spieler unter immensen Performance-Druck gesetzt. Die Transparenz, welche HenryG an den Tag legte, stellte ebenfalls die immensen finanziellen Mittel offen, die Cloud9 hinter diese Spieler steckten. ALEX und Co. waren nicht dafür ausgerüstet, um mit diesem Ausmaß an Erwartungen umzugehen.

WARUM COMPLEXITY FUNKTIONIERT HABEN

Zwischen dem ‘Colossus’ und dem ‘Juggernaut’ bestehen wenige Parallelen. Genau wie ALEX war Benjamin “blameF” Bremer als IGL eines anderen Teams nach vorne geprescht und genau wie mezii waren Owen “oBo” Schlatter und Valentin “poizon” Vasilev relativ unerprobte Jungtalente. Doch da hören die Ähnlichkeiten schon auf, denn Complexity hatten bei der Talentauswahl einige wichtige Punkte beachtet.

blameF konnte mit Complexity bereits Erfolge feiern – ein Beweis dafür, dass der Superteam-Ansatz funktionieren kann.

Anders als Patrick “es3tag” Hansen ist Kristian “k0nfig” Wienecke schon ein alter Hase. Viele unterstellen ihm, dass er seine besten Tage schon hinter sich habe – aber zumindest ist er ein stabiler und erprobter Spieler, der sich nicht so leicht unterkriegen lässt und auch nicht allzu viel Anleitung benötigt. Will “RUSH” Wierzba ist zwar nicht mehr der Leistungsträger, der er einst unter Cloud9 war, aber als Major-Sieger bringt er ein solides Fundament und verdient sich als wertvoller Supporter. Genau diese Bausteine fehlte im Grundgerüst des Cloud9-Lineups.

HATTEN CLOUD9 ÜBERHAUPT EINE CHANCE?

Das Projekt startete inmitten einer globalen Pandemie und gab den Spielern ein limitiertes Fundament, um vom Boden zu kommen und ihre Ziele zu erreichen. Diese Ziele waren dann auch noch viel zu hoch gesteckt und es wurde von dem Lineup erwartet, in kürzester Zeit zu einem Top-10-Roster zu werden und die internationale Spitze zu erklimmen.

Jetzt, nachdem dieses Projekt offiziell fehlgeschlagen ist, mag es vielleicht einfach klingen, es im Nachhinein abzuschreiben, doch auch zu Beginn zeichneten sich bereits Warnsignale ab. Bereits bei der Gründung des Rosters wurden Fehler gemacht und wichtige Faktoren übersehen, die den Erfolg des Teams maßgeblich bestimmt hätten. Die Schuld trifft nicht die Spieler, denn ALEX und Co. haben sicherlich alles gegeben, was ihnen zur Verfügung stand. Es stellt sich nur die Frage, ob das Projekt mit einem anderen Ansager, mit einem anderen Supporter oder mit anderen Star-Fraggern vielleicht zu Erfolg gelangt wäre.

Doch diese Fragestellerei nutzt nichts, denn nun hat eine der größten Esports-Organisationen sich aus dem CS:GO-Geschäft zurückgezogen und Millionenbeträge in ein fehlgeschlagenes Projekt versenkt. Für Cloud9 ist das ein Denkzettel dafür, dass Stars und Namen keine umfangreiche Teamplanung ersetzen. Für die CS:GO-Szene ist es eine herbe Erinnerung, dass Erfolg meist nur mit Zeit, Hingabe, und Vertrauen erreicht werden kann. Möglicherweise hilft dieses Fallbeispiel anderen Organisationen, nicht den gleichen Fehler zu machen, und ihr Interesse und ihre Bindung an Counter-Strike nicht langfristig zu verbrennen.